Neue Chancen und Gefahren im Vertrieb: Neugefasste Vertikal-GVO 2022 in Kraft

Die bisher im Vertrieb potenziell anwendbare Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung VO Nr. 330/2010 der Europäischen Kommission vom 20.04.2010 („Vertikal-GVO“), wodurch Vereinbarungen zwischen Herstellern bzw. Lieferanten und Händlern vom Kartellverbot freistellbar sind, trat mit 31.05.2022 außer Kraft, da die ursprüngliche Geltungsdauer von 12 Jahren erreicht war.

Mit 01.06.2022 trat nun die neugefasste Nachfolgeregelung, kurz „Vertikal-GVO-neu“, samt den dazugehörigen Leitlinien („Vertikal-LL-neu“) in Kraft. Vertriebssysteme zwischen Herstellern und Händlern mit einem jeweiligen Marktanteil von nicht mehr als 30% sind weiterhin pauschal vom Kartellverbot freigestellt, sofern die Vereinbarung keine Kernbeschränkung enthält.

Diese Neufassungen bringen im Vergleich zur bisherigen Rechtslage allerdings einige Veränderungen in Form von Lockerungen, aber auch Verschärfungen, welche vor allem das Spannungsfeld Online-/Offline-Vertrieb berücksichtigen.


Inhalt


Preisbindung der zweiten Hand

Preisvorgaben und Mindestpreise (inkl. Mindestwerbepreise) sind weiterhin unzulässig. Allerdings enthalten die Vertikal-LL-neu einige Szenarien, bei denen eine Preisbindung der zweiten Hand zu Effizienzgewinnen führen kann und somit ausnahmsweise rechtmäßig sind:

  • Einführung eines neuen Produkts durch den Hersteller, zur Steigerung der Verkaufsanstrengungen des Händlers,
  • Vorgabe von festen Weiterverkaufspreisen bei Sonderangebotskampagnen, von der auch die Verbraucher profitieren (für eine Dauer von 2 bis maximal 6 Wochen),
  • gezielter Einsatz von Mindest(werbe)preisen gegen Lockvogelangebote und
  • um dem Problem entgegenzuwirken, dass Kunden Beratungsdienste von Händlern in Anspruch nehmen, bevor sie ihre Wahl zum Kauf treffen, allerdings dann das Produkt zu einem billigeren Preis bei einem Einzelhändler kaufen, der eine derartige Beratung nicht anbietet.

Durch eine Preisbindung zweiter Hand können solche Einzelhändler in die Lage versetzt werden, auch solche Kundenberatungsleistungen anzubieten.

Außerdem sind nun Streckengeschäfte ausdrücklich vom Verbot der Preisvorgabe an einen Händler dann ausgenommen, sofern feststeht und vom Hersteller vorgegeben wird, über welchen Händler fakturiert wird. Sollte allerdings der Endkunde den Händler wählen, darf der Hersteller dem Händler weiterhin nicht den Preis vorgeben.

Alleinvertrieb

Alleinvertriebssysteme dürfen in Zukunft bis zu fünf Händler in einem Gebiet umfassen oder hinsichtlich einer Kundengruppe von einem Händler zugewiesen werden, sofern die restlichen Gebiete bzw Kunden anderen Händlern exklusiv zugewiesen sind und/oder sich der Hersteller diese sich selbst vorbehält bzw für eigene zukünftige Verkäufe reserviert. Die Freiheit der Händler, aktiv zu verkaufen, wird dadurch eingeschränkt. Zum Schutz eines Exklusivgebiets dürfen auch Sprachoptionen auf Webseiten vorgegeben werden. Passive Verkäufe dürfen nicht untersagt werden. Darüber hinaus ist es nun zulässig, dass die Hersteller von ihren Händlern verlangen, die aktiven Verkaufsverbote an deren Abnehmer weiterzugeben, um das Vertriebssystem des Herstellers auf allen Ebenen aufrecht zu erhalten.

Selektiver Vertrieb

Die Beschränkungen des Gebietes oder der Kundengruppen (aktiver oder passiver Verkauf) bei einem selektiven Vertriebssystem sind weiterhin Kernbeschränkungen. Zukünftig sind Beschränkungen an selektive Vertriebshändler allerdings freigestellt, wodurch (i) der aktive Verkauf in ein Exklusivgebiet verboten wird, (ii) der aktive und passive Vertrieb an unautorisierte Händler in selektive Vertriebsgebiete verboten wird und (iii) der Niederlassungsort des Händlers beschränkt wird.

Klargestellt ist nun, dass ein selektiver Vertrieb neben einem Exklusivvertrieb betrieben werden darf. 

Online-Vertrieb

Effektiver Online-Vertrieb:

Für den Online-Vertrieb ergeben sich aus der Vertikal-GVO-neu einige praktische Änderungen, da es nun für die einzelnen Händler jederzeit möglich sein muss, effektiv im Internet zu vertreiben. Eine Beschränkung, wodurch die Händler daran gehindert werden, das Internet wirksam für Verkauf oder Werbekanäle zu nutzen, ist unzulässig und stellt eine Kernbeschränkung dar. Zukünftig wird es erlaubt sein, dass dem Händler vom Hersteller verschiedene Kriterien für den Online-Vertrieb in Bezug auf bestimmte Online-Marktplätze, Vertriebskanäle und sonstige Qualitätsstandards vorgegeben werden. Vor allem das Erscheinungsbild der Homepage und die Präsentation der Produkte können zukünftig vorgegeben werden. Ebenso wird das bisherige Gleichwertigkeitserfordernis, dass die Vorgaben für Online-Handel und stationären Handel betroffen haben, zukünftig nicht mehr weiterverfolgt.

Doppelpreissysteme (dual-pricing):

Diese stellen zukünftig keine Kernbeschränkung mehr dar. Es ist Herstellern nun erlaubt, für den Händler unterschiedliche Großhandelspreise für Online- und Offline-Verkäufe festzusetzen. Ziel dabei muss es sein, bisherige unterschiedlich hohe Investitionen des Händlers im Online- und Offline-Handel auszugleichen.

Preisvergleichsportale:

Ein generelles Verbot von einem Hersteller an einen Händler Preisvergleichsportale zu nutzen (oder Informationen an diese weiterzugeben) darf nicht vorgeschrieben werden, da dadurch der passive Verkauf beschränkt wird. Erlaubt ist lediglich das Verbot, ein bestimmtes und explizit genanntes Preisvergleichsportal nicht zu benützen. Bei Alleinvertriebssystemen werden derartige Komplettverbote aber zukünftig zulässig sein, um zu verhindern, dass andere Händler aktiv über die Preisvergleichsportale an Dritte exklusiv vorbehaltene Gebiete/Kundengruppen verkaufen.

Verbot von Online-Marktplätzen:

Unabhängig vom Vertriebssystem wird es zukünftig zulässig sein, die Nutzung von Drittplattformen (z.B. Amazon oder ebay) zu untersagen, sofern dadurch kein Totalverbot des Internetverkaufs bezweckt oder erreicht wird.

Online-Plattformen/Vermittlungsdienste

Zukünftig zählen die Online-Plattformen und Online-Vermittlungsdienste selbst zu den Anbietern von Waren. Die Vertikal-GVO-neu ist nun auch auf Vereinbarungen anzuwenden, die zwischen Vermittlungsplattformen und Händlern abgeschlossen werden. „Weite“ Preisgleitklauseln/Paritätsverpflichtungen (jene Klauseln, die den Abnehmern von Online-Vermittlungsdiensten dazu anhalten, Waren oder Dienstleistungen an Endverbraucher nicht zu günstigeren Bedingungen zu verkaufen/anzubieten, die unterhalb anderer Online-Vermittlungsdienste liegen) sind somit unzulässig. Damit sind nur mehr „enge“ Preisgleitklauseln/Paritätsverpflichtungen (jene Klauseln, die es einem Händler untersagen, die Produkte im Eigenvertrieb als Anbieter günstiger anzubieten) rechtmäßig. Es wird dabei aber auch ausdrücklich die Warnung ausgesprochen, dass es bei der Verwendung von „engen“ Preisgleitklauseln für Endkunden in konzentrierten Plattformmärkten zu einer Entziehung der Gruppenfreistellungsverordnung kommen wird, wenn die Online-Plattform einen erheblichen Anteil der Nutzer abdeckt und dabei keine Belege für Effizienzgewinne erbracht werden können.

Hybrid-Online-Vermittlungsplattformen wie Amazon sind gänzlich vom Anwendungsbereich der Vertikal-GVO-neu ausgenommen. Eine solche liegt vor, wenn über die Plattform ein Eigenhandel des Anbieters vorgenommen wird und gleichzeitig auch Online-Plattformdienste für andere Hersteller angeboten werden. Solche Hybrid-Online-Plattformen unterliegen daher den normalen Kartellrechtvorschriften. Die Europäische Kommission hat aber auch zu erkennen gegeben, dass sie nicht vorrangig gegen vertikale Vereinbarungen hybrider Plattformen mit Händlern vorgehen wird, sofern die Vereinbarungen keine bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen enthalten und die hybride Plattform über keine Marktmacht verfügt.

Dualer Vertrieb

Beim dualen Vertrieb vertreibt der Hersteller seine Waren sowohl selbst bzw über sein eigenes Vertriebsnetz als auch über unabhängige Händler. Ein Wettbewerbsverhältnis besteht daher zwischen Hersteller und Händler nur auf der Handelsebene. Selbiges gilt nun auch im Verhältnis zwischen Großhändlern bzw Importeuren und nachgelagerten Händlern. Ein Informationsaustausch zwischen diesen ist so lange rechtmäßig, als er unmittelbar mit der Durchführung der vertikalen Vereinbarung zusammenhängt und für produktions- oder vertriebsbezogene Effizienzgewinne erforderlich ist. Information über die nachgelagerte Preisgestaltung oder Umsätze bleiben weiterhin verboten.

Laufzeit von Wettbewerbsverboten

Bisher war eine Vereinbarung von Wettbewerbsverboten (oft auch als Exklusivität bezeichnet) lediglich für eine Maximaldauer von fünf Jahren zulässig. Zukünftig dürfen diese Wettbewerbsverbote über einen Zeitraum von fünf Jahren hinaus auch stillschweigend verlängert werden, sofern der Hersteller/Lieferanten den Abnehmern/Händlern einen effektiven Hersteller-/Lieferantenwechsel ermöglichen. Hierfür müssen angemessene Kündigungsfristen und nicht übermäßige Kosten vorgesehen sein.

Handelsvertreter

Es ist nun ausdrücklich festgehalten, dass Handelsvertreter unterschiedlich vergütet werden können, ua auch mit einem pauschalen Prozentsatz. Die Eigenschaft, ob sich jemand als Handelsvertreter qualifiziert, hängt ausschließlich davon ab, ob dieser Risiken hinsichtlich produkt- und vertragsspezifischer Leistungen trägt.

Aktueller Handlungsbedarf

Überprüfen bzw optimieren Sie Ihr Vertriebssystem bzw Ihre Vertriebsverträge, um in keine neue Kartellrechtsfalle zu geraten, sondern neue rechtliche Möglichkeiten zu nutzen.

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Autor: Christina Hummer