Laufende Vorabentscheidungsverfahren im Kartellrecht

Im letzten Halbjahr befasste sich der Europäische Gerichtshof („EuGH“) mit Vorabentscheidungsverfahren hinsichtlich der Anwaltsberatung als schuldausschließenden Verbotsirrtum und der zustimmungsbedingten Einsicht Dritter in Verfahrensakte. Außerdem hat der EuGH im Rahmen eines abgeschlossenen Vorabentscheidungsverfahren Vereinbarungen zwischen Versicherungsgesellschaften und Kfz-Reparaturwerkstätten über Preise als rechtswidrig angesehen.

Im Vorabentscheidungsverfahren Schenker wird die Frage behandelt, inwiefern rechtliche Beratung eines Anwalts einen Kartellverstoß entschuldigen kann. Die Generalanwältin hat in diesem Fall nun den Schlussantrag vorgelegt. In diesem schlägt sie vor, den schuldausschließenden Verbotsirrtum im europäischen Kartellrecht anzuerkennen und stellt gleichzeitig Kriterien auf, die ihrer Auffassung nach erfüllt sein müssen, damit nach EU-Kartellrecht ein nicht vorwerfbarer Rechtsirrtum besteht. Hierzu gehört (i) die Einholung des Rats eines unabhängigen externen Rechtsanwalts, (ii) die Spezialisierung im Wettbewerbsrecht des Rechtsanwalts, (iii) ein auf der Grundlage einer vollständigen und zutreffenden Schilderung der Tatsachen basierender anwaltlicher Rat, (iv) ein sich ausgiebig mit der Verwaltungs- und Entscheidungspraxis der Europäischen Kommission sowie mit der Rechtsprechung der Unionsgerichte befassendes Gutachten, und (v) kein offensichtlich falscher Rat, da ein Unternehmen nicht blind auf einen Rat vertrauen darf. Der EuGH wird nun darüber entscheiden, ob und inwieweit ein schuldausschließender Verbotsirrtum dem Grunde nach anerkannt wird.

Ein weiteres, noch anhängiges Vorabentscheidungsverfahren des EuGH betrifft den Fall Donau Chemie. In diesem wird erörtert, ob nationales Verfahrensrecht die Einsicht für Dritte in Verfahrensakten eines Gerichts von der Zustimmung der Verfahrensbeteiligten abhängig machen kann. Auch hier hat der Generalanwalt bereits seinen Schlussantrag abgegeben. Er argumentiert, dass die österreichische Regelung, welche das Akteneinsichtsrecht von Kartellgeschädigten grundsätzlich ausschließt, nicht mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz (Art. 19 Abs. 1 EUV) vereinbar ist. Dies soll jedoch nicht gelten, wenn das nationale Recht andere Möglichkeiten zur Beweisbeschaffung für die Verletzung des Kartellrechts und Schadensermittlung rechtlich vorsieht. Damit soll nicht das Gesetz eine einheitliche Regelung schaffen, sondern den nationalen Richter fallspezifisch nach alternativen Rechtsschutzmöglichkeiten prüfen lassen.

Der EuGH hat im März seine Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren Allianz Hunga´ria Biztosi´to´ Zrt. u. a. / Gazdasa´gi Versenyhivatal erlassen. Die Richter urteilten, dass Vereinbarungen zwischen Versicherungsgesellschaften und Kfz-Reparaturwerkstätten über die Preise für die Reparatur versicherter Fahrzeuge einen wettbewerbswidrigen Zweck haben und verboten sind, weil sie schon ihrer Natur nach scha¨dlich fu¨r das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs sind. Der EuGH hat zudem eine Ausweitung der Kategorie der bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen bei vertikalen Vereinbarungen, welche neben den bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen den Tatbestand des Art. 101 AEUV erfüllen, vorgenommen. Neben den bereits durch den EuGH bestätigten Vorgehensweisen (i) der Vorgabe von Mindestpreisen für den Wiederverkauf, (ii) dem Verbot des Parallelhandels zwischen Mitgliedstaaten durch die Einführung eines absoluten Gebietsschutzes, sowie (iii) des Internetvertriebs bestimmter Erzeugnisse, sofern dieses Verbot nicht objektiv gerechtfertigt ist (zB im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems), zählt der EuGH nun auch die Billigung einer bezweckten (horizontalen) Wettbewerbsbeschränkung im Rahmen einer vertikalen Vereinbarung der Kfz-Schadensversicherer mit einer Vereinigung von Unternehmen ebenfalls zu den Kategorien, sowie die Verletzung der Verbrauchererwartungen in die Unabhängigkeit der Vertragshändler von Versicherungsgesellschaften. Diese Neuerung wird als kontrovers angesehen, weil vom EuGH festgestellt wird, dass eine Vereinbarung bereits eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt, wenn sie diese aufgrund der konkreten Wettbewerbsverhältnisse auf dem betroffenen Markt wahrscheinlich bewirkt, somit die Unterscheidung zwischen dem „Bezwecken“ und „Bewirken“ verwischt wird.