Belebung der bisher unangewendeten Super-Power der Europäischen Kommission in der Fusionskontrolle

Die Europäische Kommission („Kommission“) veröffentlichte am 26. März 2021 Leitlinien zur Anwendung des Verweisungssystems von Artikel 22 der Fusionskontrollverordnung („FKVO“). Ziel ist die zukünftige Prüfung von Zusammenschlüssen durch die Kommission, die aufgrund von geringem Umsatz von zumindest einem beteiligten Unternehmen bisher keiner Fusionskontrolle – dh weder durch die Kommission noch eine Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaates – unterliegen, allerdings aufgrund von hohem Wettbewerbspotenzial eines beteiligten Unternehmens im Binnenmarkt zukünftig den Wettbewerb einschränken könnten.

In ihren Leitlinien erwähnt die Kommission als solche „Verweisungskandidaten“ vor allem Transaktionen mit Start-ups oder Marktteilnehmern mit erheblichem Wettbewerbspotenzial, die allerdings noch kein Geschäftsmodell dazu entwickelt haben, das signifikante Umsätze generiert. Zu diesen Unternehmen gehören aber auch solche, die potenziell wichtige Forschung betreiben, eine tatsächliche oder potenziell wichtige Wettbewerbskraft zur Verfügung hat, Zugang zu wettbewerbsrelevanten Vermögenswerten besitzt (wie z.B. Rohstoffe, Infrastruktur, Daten oder geistigen Eigentumsrechten) oder Produkte oder Dienstleistungen liefert, die als wichtige Vorleistungen/Komponenten in anderen Branchen gelten. Bisher waren dies vor allem neue Wettbewerber in den Bereichen Digitales, Arzneimittel und Biotechnologie.

Die Kommission ermutigt nun die nationalen Wettbewerbsbehörden, Verweisungsanträge nach Artikel 22 FKVO an diese auch dann zu stellen, wenn die verweisende nationale Wettbewerbsbehörde nach ihren nationalen Regelungen gar nicht für die Prüfung des Vorhabens zuständig ist.

Problematisch ist, dass Verweisungen an die Kommission auch von bereits abgeschlossenen Transaktionen möglich sind. Die Kommission weist zwar darauf hin, dass sie eine Verweisung nicht akzeptieren würde, wenn mehr als sechs Monate nach dem Abschluss vergangen sind, vorausgesetzt allerdings, dass die Durchführung des Geschäfts öffentlich bekannt war. Andernfalls läuft die Sechsmonatsfrist ab dem Datum, an dem die wesentlichen Fakten der Transaktion bekannt gemacht wurden. In jedem Fall handelt es sich bei diesem Zeitraum nur um einen Richtwert. Die Kommission behält sich ausdrücklich das Recht vor, Verweisungsanträge zur Überprüfung von Transaktionen im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 22 FKVO auch nach Ablauf dieses Zeitraums anzunehmen.

Im Ergebnis kann jeder Zusammenschluss unabhängig vom Transaktionswert und den Zielumsätzen bei einer potentiellen Beeinträchtigung des Wettbewerbs von der Kommission überprüft werden. Somit müssen künftig Unternehmen die Wahrscheinlichkeit bzw die Risiken einer solchen Überprüfung durch die Kommission einschätzen. Eine Verweisung an die Kommission oder auch eine freiwillige Konsultation mit den nationalen Wettbewerbsbehörden und/oder der Kommission vorab ist jedenfalls mit einem Zeitaufwand von mehreren Monaten bis zur Freigabe der Transaktion verbunden. Dies erschwert die Planung und Durchführung von Transaktionen erheblich.

Alternativ muss die Möglichkeit abgewogen werden, ob eine Transaktion aufgrund mangelnder Medienpräsenz „unter dem Radar bleibe“ und kein Dritter die Wettbewerbsbehörden von dem Zusammenschluss informiert. In diese Risikoabwägung ist zu berücksichtigen, welche rechtlichen Risiken bei einer potentiellen Rückabwicklung einer bereits vollzogenen Transaktion entstehen können

Als oberste Prämisse ist hierbei die ex tunc-Rückabwicklung. In gesellschaftsrechtlichen Angelegenheiten muss – zumindest in Österreich – zur Wirksamkeit einer Abtretung ein Notariatsakt abgeschlossen werden

Zu bedenken sind im Hinblick auf diese „zwischenzeitliche“ Situation auch interne gesellschaftsrechtliche Vorgänge, etwa die Auszahlung von Bilanzgewinnen und der damit aufkommenden Frage, wem diese zustehen.

Unklar bliebe ebenso der Umgang mit den in einer Generalversammlung/Hauptversammlung zustande gekommenen Beschlüssen: Es stellt sich die Frage, ob diese reversibel sind – immerhin war ja der bestehende Gesellschafter in der „Zwischenzeit“ tatsächlich Gesellschafter – und welche Folgen eine Beibehaltung oder Rückgängigmachung hätten.

Schlussendlich könnte sich auch noch die Frage bezüglich steuerlicher Gruppenverträge stellen, die in der Annahme eines wirksamen Zusammenschlusses abgeschlossen  wurden, ebenso die  steuerliche Behandlung des „zwischenzeitlichen“ Konzerns und dessen Auflösung (Schachtelprivileg etc). Gegebenenfalls müsste bereits vorab eine derartige Verpflichtung zur Rückabwicklung vertraglich vorgesehen werden.

Kurzum, Transaktion in hiervon primär betroffenen Branchen benötigen zukünftig bereits in der Anbahnungsphase eine wettbewerbliche Analyse, um herauszufinden, ob es sich überhaupt um eine Transaktion handelt, die von der Kommission einer Prüfung unterzogen werden würde.



Autor: Christina Hummer